Sexuelle Gewalt in der Behindertenbewegung: Lautes Schweigen

Ich habe den Blick traurig nach unten gerichtet. Auf meiner Stirn steht "No" als Statement gegen sexuelle Gewalt. Das Bild ist in Schwarz-Weiß.

Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ist für die deutschsprachige Inkluencer-Community ein Thema, zumindest wenn die Täter*innen keine Behinderung haben. Kommt die Gewalt aus unseren eigenen Reihen, wird es bei vielen plötzlich still.

Es ist erst wenige Jahre her, als ein Hashtag unsere Welt nachhaltig veränderte. Als 2017 unter dem #MeToo (deutsch: #IchAuch) zahllose Menschen, überwiegend Frauen, auf sozialen Netzwerken ihre persönlichen Erfahrungen mit sexueller Gewalt teilten, wurde vielen von uns erst bewusst wie weitreichend dieses Problem wirklich ist. Für viele Betroffene war es das erste Mal, dass sie über ihre Erfahrungen sprechen konnten. Weil sie im Zuge dieser Bewegung das Gefühl hatten, endlich ernst genommen zu werden und von dem Wissen nicht allein zu sein, getragen wurden. Der Mut dieser Menschen hat die Art, wie viele von uns Übergriffe wahrnehmen, positiv verändert. Wir sind dadurch wachsamer geworden.

Doch trotz der feministischen Erfolge, die durch die Bewegung erzielt wurden, können wir seit Jahren dabei zusehen, wie eine Szene oder Community nach der anderen mit dieser Gewalt und diesen Übergriffen zu kämpfen hat und wie im Umgang damit versagt wird. Ich dachte lange Zeit, dass zumindest die Community der deutschsprachigen Behindertenbewegung ein sicherer Ort wäre, doch offensichtlich bilden wir keine Ausnahme von den Regeln, die sich in solchen Fällen immer wieder bewahrheiten. 

Was ich in den letzten Wochen erleben und nicht erleben durfte, hat meinen Blick auf unsere Community verändert. Zeit für einen Rant gegen Teile meiner eigenen Community von Inkluencer*innen, die sexuelle Gewalt offenbar nur ernst nehmen, wenn sie nicht aus unseren eigenen Reihen kommt.

MeToo

Sexuelle Gewalt ist mir nicht fremd, ich kannte sie bereits vor meinem Coming-Out und in jungen Jahren, die Vorfälle wurden durch meine Transition nicht weniger, sondern deutlich mehr, obwohl sich die Art und Weise verlagert hat. Den Mut, über Dinge zu reden oder gar Täter zu benennen, hatte ich nie. Stattdessen habe ich gelernt zu schweigen und die Vorfälle tief in mir zu begraben. Es gibt lediglich zwei Menschen in meinem Leben, die mittlerweile Teile der Wahrheit kennen, wenn auch nicht zu gleichen Teilen. Mehr möchte ich zu meiner Vergangenheit nicht sagen. Doch durch diese zwei Menschen hat sich mein Umgang mit solchen Situationen verändert. So kam es, dass ich jetzt endlich den Mut gefunden habe, mich gegen einen Übergriff zu wehren.

Der Grund, mich am 28.09.23 öffentlich zu wehren, war aber nicht mein eigener Fall. Wie in meinem ersten Statement erwähnt, habe ich mich erst dafür entschieden, als ich erfuhr, dass es mehrere Frauen gibt, die ebenfalls betroffen sind.

Diese Tatsache löste in mir eine unglaubliche Wut aus, auf den Täter, aber auch auf mich selbst. Meine Gedanken waren: Ich habe als Frau versagt und meine Schwestern nicht beschützt, schon wieder! Ich habe nicht direkt um Gerechtigkeit gekämpft, schon wieder! Ich habe mich selbst nicht verteidigt, schon wieder! Ich kann nicht ändern, was passiert ist, aber ich kann meinen Umgang mit derartigen Situationen ändern. Deshalb wollte ich plötzlich alles dafür tun, damit das nicht so weiter geht. 

Mir war bewusst, dass ich mich zur Zielscheibe seines Zorns mache, wenn ich öffentlich mache, was vorgefallen ist. Doch ein paar Dinge habe ich fahrlässig unterschätzt:

  • Den Ableismus, sowohl von Menschen mit Behinderung als auch von Menschen ohne Behinderung, der Täter*innen tatsächlich schützt, indem das Verhalten aufgrund einer Behinderung relativiert wurde.
  • Die Täter-Opfer-Umkehr, die mich plötzlich zur bösen Person machte.
  • Das Schweigen von vielen bekannten Gesichtern der Community.

Hier habe ich zum ersten Mal erlebt, wie Teile einer Community, die sich nach außen hin immer progressiv verkaufen möchte, einen Täter schützen. Entweder durch Relativierungen oder Ignoranz.

Wenn Ableismus Täter*innen schützt

Woher kommt der Automatismus des Wegsehens in unserer Community? Immerhin ist uns das Thema der sexuellen Gewalt doch nicht fremd. Auf der Website ableismus.de finden sich einige Beispiele für sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung, doch soweit mir bekannt ist, handelt es sich bei den Täter*innen, die hier benannt werden, um Menschen ohne Behinderung. Versteht mich nicht falsch, es ist notwendig diese Fälle zu sammeln und aufzuzeigen, denn wir reden viel zu wenig über dieses Thema. Laut sein und Position beziehen ist wichtig, aber warum bekommt ein ziemlich großer Vorfall in der eigenen Community, vielleicht der erste in der Community, nicht mehr Aufmerksamkeit?

Eine Erklärung liegt meiner Meinung nach darin, dass derartige Verhaltensweisen durch Ableismus verharmlost werden. Menschen mit Lernbehinderungen, geistigen oder in seltenen Fällen auch psychischen Behinderungen werden infantilisiert. Ihnen wird ein „besonderer Schutz“ zugesprochen, der letztlich von jeder eigenen Verantwortung freispricht. Die Menschen, die diese Meinung vertreten, sind teilweise bekannte Gesichter unserer Community. Setzen wir uns also nur dann für die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung ein, wenn es bequem für uns ist? Das ist letztlich Cherry Picking auf dem Rücken der Betroffenen von sexueller Gewalt. In meinem Fall konnte der Täter ungestört Menschen belästigen, weil er aufgrund seiner Behinderung nicht ernst genommen wurde. An dem Punkt nehme ich mich übrigens nicht aus, meine erste Reaktion war ähnlich, obwohl ich selbst eine Betroffene dieser Übergriffe bin. Ich habe jedoch verstanden, dass eine Behinderung keine Entschuldigung sein darf. Wenn ein Teil unserer Community an der Einstufung als gleichwertig scheitert, offenbart das, dass diese Menschen nicht daran glauben, dass wir Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung gleich behandelt werden sollten. Letztlich ist es nichts anderes als Ableismus, in Form einer positiven Diskriminierung für den Täter, der dadurch Schutz erhält.

This is a man’s world

Die Frage die sich stellt: Woher kommt diese Art der Rape Culture in unserer Community? Um die Frage zu beantworten, muss man erstmal erklären, was mit “Rape Culture” eigentlich gemeint ist. Der Begriff beschreibt einen gesellschaftlichen Vorgang der sexuelle Gewalt als Norm behandelt und die Betroffenen für ihre eigenen Übergriffe verantwortlich macht. Es geht nicht nur um sexuelle Gewalt an sich, sondern um kulturelle Normen und Institutionen, die Täter*innen schützen, Straffreiheit fördern, die Betroffene verantwortlich machen und von ihnen unzumutbare Opfer verlangen, um sexuelle Übergriffe zu vermeiden.

Das erste Merkmal ist dabei in der Regel, dass ein Übergriff als ein Problem gesehen wird, das durch die Verbesserung des Verhaltens der Betroffenen und nicht durch die Verbesserung des Verhaltens potentieller Täter*innen zu lösen ist. Dieses Muster hat viele Formen. Das klassische Beispiel ist, wenn dritte Personen oder Täter*innen die Betroffenen beschuldigen, durch das Tragen freizügiger Kleidung die Aufmerksamkeit der Täter*innen zu erregen. Eine weitere Form wäre es beispielsweise, potentielle Betroffene dazu aufzufordern, Dinge nicht zu tun. Sätze wie “Trink keinen Alkohol”, “Zieh dich nicht so an” oder “Geh Nachts nicht allein raus” legen die Verantwortung letztlich immer auf die potentiell betroffene Person. Passiert etwas, hat man die “Regeln” nicht befolgt und ist letztlich selber schuld.

Das zweite Merkmal ist die mangelnde Bereitschaft bzw. die Unfähigkeit, die Täter*innen von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen zu bestrafen. Das kann man auf die Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte beziehen, die oftmals ein sehr veraltetes Bild von sexueller Gewalt pflegen und viele Fälle daher kaum beachten. Allerdings geht es dabei auch um unseren gesellschaftlichen Umgang mit diesen Fällen, denn der Schutz der Täter*innen ist nicht auf das Rechtssystem beschränkt. Einrichtungen, Institutionen, Behörden und auch Communitys versäumen es routinemäßig, sexuelle Übergriffe innerhalb ihrer jeweiligen Strukturen zu behandeln. All diese institutionellen und gesellschaftlichen Versäumnisse werden durch den sozialen Druck auf die Betroffenen, zu schweigen, und durch gewisse Muster der Beschuldigung oder Ächtung von Betroffenen, die sich melden, noch verstärkt.

Wenn man sich die Merkmale ansieht, kommt man nicht um die Schlussfolgerung herum, zu sagen, ein nicht unerheblicher Teil der deutschsprachigen Behindertenbewegung vertritt diese Ansichten zumindest teilweise. Ein Teil der Problematik entsteht definitiv durch den eigenen internalisierten Ableismus, doch als alleinige Erklärung wäre dieser Punkt zu einfach. Fakt ist: Wir leben in einer Gesellschaft, in der cis Männer die meiste Macht haben und auch unsere Community ist immer noch zu großen Teilen cis-männlich dominiert, was letztlich patriarchale Strukturen nährt. Obwohl FLINTA*-Personen in der jüngeren Generationen mehr Sichtbarkeit für sich beanspruchen und dadurch mehr Raum für intersektionalen Feminismus entsteht, dem mittlerweile auch einige cis männliche Kollegen folgen, klammern gerade ältere Generationen den feministischen Fortschritt aus. Das bezieht sich allerdings auch auf Teile der Community, die sich explizit “Feminismus” auf die Fahne schreiben, der dann allerdings nie über die simplen antifeministischen Ideen einer Alice Schwarzer hinauswachsen durfte. Unsere Community existiert in einer cis männlichen Welt und sie wird folglich auch immer ein Spiegel davon sein, wenn wir das nicht gemeinsam ändern.

Unser Leben ist nicht euer Porno.

Als ich meinen aktuellen Fall bekannt machte, wurde mir mehrfach gesagt, dass es ja wohl nicht so schlimm sein kann und dass ich überreagieren würde. Wie definiert man schlimm? War es der schlimmste Übergriff in meinem Leben? Mit Sicherheit nicht, aber das habe ich auch nie behauptet. Schlimm war es, weil der Übergriff durch einen Space zustande kam, in dem ich mich immer sehr sicher gefühlt habe. Es wurde offensichtlich, dass man uns Betroffene sexualisiert und objektifiziert. In meinem Fall hängt das offensichtlich direkt mit meiner Arbeit zusammen. Es scheint für einige Menschen völlig legitim, mir enthemmt und entmenschlichend zu begegnen, nur weil ich diese Arbeit mache. Eine Sache muss allerdings klar sein: Das Leben von uns Betroffenen ist nicht euer Porno!

Wenn wir uns nicht ändern, wird dieses Problem weiter bestehen, in unserer Community und darüber hinaus. Das ist der Fall, weil unsere Gesellschaft Frauen, trans*,- und inter* Personen, und Kinder als weniger wichtig ansieht als cis Männer. Mit anderen Worten, sie verdienen weniger Respekt und Macht (sowohl über ihr eigenes Leben als auch innerhalb der Gesellschaft). 

Die Solidarität, die den anderen betroffenen Frauen und mir in unserem Fall entgegengebracht wurde, war überwältigend und ich bin dafür unendlich dankbar. Ich möchte nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht. Es geht hier explizit um die Teile unserer Community, die den Betroffenen in diesem Fall, und auch in anderen prominenten Fällen außerhalb unserer Community, die Solidarität auf ekelhafteste Weise entzogen haben und uns zu den Bösen erklären möchten. Ebenso geht es um diejenigen, die wie erwähnt immer nur dann laut werden, wenn die Täter*innen keine Behinderung haben. Wer in Fällen von sexueller Gewalt schweigt, bleibt nicht neutral, sondern wählt die Seite der Täter*innen.

Ich werde nie wieder schweigen. Nie wieder werde ich andere Betroffene mit ihren Geschichten alleine lassen. Stattdessen möchte ich meinen Beitrag dafür leisten, dass Betroffene, die ihre Stimme erheben, um über Gewalt zu sprechen, mehr Unterstützung erhalten. Diese Community verdient Vertreter*innen, die wissen, wie wichtig diese Themen für eine intakte Gesellschaft sind. Wir brauchen keine alten weißen Männer, ob mit Penis oder Vagina, die mit ihrem Bewusstsein für derartige Themen in den 50ern stehen geblieben sind. Wir können und müssen zusammenarbeiten, um Änderungen von Gesetzen, Vorschriften und sozialen Normen zu fordern und umzusetzen, die Sicherheit schaffen. Nur wenn wir das tun, können wir die Ungleichgewichte, die uns alle unser Leben lang geprägt haben, endgültig aus unserer Community und irgendwann aus unserer gesamten Gesellschaft verbannen.

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