Die Unsichtbaren

Das Bild zeigt eine Nahaufnahme meines Oberkörpers. Ich schaue direkt in die Kamera, mein Kopf ist leicht nach links geneigt und die Haare fallen über meine rechte Schulter. Ich stehe vor einem schwarzen Hintergrund und trage ein weißes T-Shirt mit einer rot schwarzen Zeichnung darauf. Das Rot passt zu meinem Lippenstift.

Über trans Menschen mit einer Behinderung.

Vorwort:

Den folgenden Text habe ich ursprünglich für das Buch „Realitäten. 30 queere Stimmen.“ geschrieben. Vor etwas mehr als einem Jahr wurde ich gefragt, ob ich mich an einem Open Call des Etece Verlags beteiligen möchte. Gesucht wurden Texte über queere Erfahrungen im deutschsprachigen Raum. Das daraus resultierende Sammelband sollte eine möglichst große Bandbreite an Erfahrungen und Perspektiven abbilden.

Ich entschied mich aufgrund der Aktualität in meiner damaligen Situation ( rund um die Debatte um meine Hormontherapie ) für einen Text, der die Schwierigkeit und Probleme aufzeigen sollte, die trans* Menschen mit einer Behinderung bekommen können, sobald sie Zugang zu unserem Gesundheitssystem brauchen. Gleichzeitig sollte der Text auch nicht betroffene Menschen ansprechen und abholen. Es gab in den letzten paar Jahren wirklich leichtere Aufgaben, aber letztlich entstand durch den wertschätzenden und anregenden Austausch mit den Lektor*innen ein Text, auf den ich immer noch stolz bin. Auch deswegen, weil er mir in den letzten Monaten mehrfach bewiesen hat, dass die Idee dahinter tatsächlich funktioniert wie gewünscht.

An der Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass das Buch demnächst eine weitere Auflage bekommt. Wenn euch mein Text gefällt oder wenn ihr grundsätzlich an queeren Perspektiven interessiert seid, lege ich euch die 29 anderen großartigen Autor*innen und ihre Stimmen ans Herz. Vielen Dank an das Kollektiv, für die Möglichkeit, diesen Text bei euch zu veröffentlichen, für die gute Zusammenarbeit und für eure Arbeit zu einer größeren Vielfalt in der Buchbranche beizutragen.

Viel Spaß mit meinem Kapitel.

Die Unsichtbaren

Hallo liebe Leser*innen,
ich möchte deine Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken, das normalerweise wenig beachtet wird. Wahrscheinlich betrifft es dich gar nicht persönlich – obwohl auch du keine Garantie hast, nicht eine der genannten Eigenschaften im Laufe deines Lebens zu erwerben und somit selbst zumindest teilweise betroffen zu sein.
Solltest du tatsächlich nicht betroffen sein, möchte ich mich bereits im Vorfeld bei dir bedanken für die Zeit, die du in das Lesen des Textes investieren und für die Gedanken, die du dir vielleicht zu diesem Thema machen wirst.

In dem folgenden Text soll es um trans Menschen mit einer Behinderung gehen und um ihre Zugänge zu dem aktuellen medizinischen System. Damit du besser nachvollziehen kannst, warum ich ausgerechnet darüber schreibe, möchte ich mich kurz vorstellen: Mein Name ist Chris, ich bin in meinen frühen Dreißigern, ich lebe in einer kleinen Siedlung im Norden von München, ich bin eine trans Frau und ich habe eine Behinderung. Meine Behinderung trägt den klangvollen Namen SMA (Spinale Muskelatrophie) Typ 2.

Eine SMA ist eine Motoneuronenerkrankung. Jeder Mensch besitzt ein SMN1-Gen, dieses Gen ist in verschiedensten Körperzellen wichtig, denn es sorgt unter anderem dafür, dass Nervenzellen mit Muskelzellen kommunizieren. Wenn das Gen, aufgrund eines genetischen Defekts, eine Veränderung durchmacht oder es zu einem Verlust des Gens kommt, können die Impulse unseres Gehirns nicht mehr von den Vorderhornzellen über die Nerven an die angeschlossenen Muskeln weitergeleitet werden. Werden die Impulse nicht mehr weitergeleitet, folgen Muskelschwund, Lähmungen und verminderte Muskelspannungen. Es kann zu Einschränkungen der Sprech-, Kau- und Schluckfunktionen kommen. Ohne eine Behandlung nimmt die Muskulatur der betroffenen Menschen immer weiter ab. Die Behandlungsmöglichkeiten sind noch sehr neu und es gibt bisher kein Heilmittel.

Ich schreibe diesen Text über meine persönlichen Erfahrungen und Gedanken als behinderte trans Frau. Es sind Erfahrungen und Gedanken zu einem Gesundsheitssystem, das für die meisten able-bodied trans Menschen nicht passend konstruiert ist. Ein System, dass bestenfalls ertragen wird, weil es keine Alternative gibt. Von Wertschätzung kann jedenfalls keine Rede sein, dafür ist es zu übergriffig, zu entmündigend und entwürdigend. Wenn es also für die Mehrheit der Menschen, für die es entwickelt wurde, nicht passt, wie soll es dann für Menschen mit intersektionellen Identitäten wie meiner passen?

Ich habe schon als kleines Kind daran gezweifelt, dass mein Körper und die Rolle eines Jungen für mich passen. Mit dem Beginn meiner Pubertät wurde aus meinen Zweifeln eine absolute Gewissheit, denn es wurde immer offensichtlicher, dass alle Jungen, die ich kannte, ein anderes Bild und Verständnis von ihren Körpern hatten. Dabei war es auch egal, ob die Jungs eine Behinderung hatten oder nicht. Mein Problem war, dass ich dachte, dass ich nie der Mensch sein könnte, der ich bin. Natürlich hatte ich ab einem gewissen Alter verstanden, dass es für trans Menschen gewisse Möglichkeiten gab. Von den Details hatte ich damals keinen Schimmer und die Möglichkeiten waren in meiner Vorstellung nur für trans Menschen, die abled sind. Es gab für mich kein Vorbild, denn ich hatte noch nie einen anderen trans Menschen mit einer Behinderung gesehen. Außerdem dachte ich, dass man die nötigen Schritte mit jemandem wie mir gar nicht machen kann, sowohl aus medizinischer Sicht, als auch im Hinblick auf mein Umfeld. Das machte mich traurig und ließ mich zeitweise verzweifeln. Ich hatte niemanden, mit dem ich sprechen konnte. Ich fühlte mich einsam, obwohl ich immer von anderen Menschen umgeben war.
Also tat ich etwas, das viele meiner trans Geschwister kennen: Ich trug eine Maske. Ich versuchte zu verkörpern, was man von Jungen, beziehungsweise Männern eben erwartet und nach außen funktionierte es prächtig. Innerlich quälte es mich nahezu täglich.

Das Ganze änderte sich erst, als ich Menschen fand, die von selbst hinter diese Maske blicken konnten. So lernte ich, dass ich zu mir selbst stehen kann und muss, damit andere Menschen auch zu mir stehen können. Irgendwann begann ich mein Umfeld einzuweihen, Stück für Stück, einen Teil nach dem anderen und von innen nach außen. Das Ergebnis war positiv, ich war – zumindest bis hierhin – akzeptiert. Aber ich konnte mich immer noch nicht völlig annehmen, so sehr ich mich auch über diesen Erfolg freute, konnte ich nicht zufrieden sein. Ich musste mich endlich nicht mehr vor meiner Familie und meinen Freund*innen verstecken und das war toll. Ich konnte den Inhalt meines Kleiderschranks austauschen, Make-up tragen wann ich wollte, meinen Geburtsnamen ablegen – doch ich war noch nicht am Ziel. Mir fehlte der nächste große Schritt.

Ich entschloss mich zu einer Hormontherapie. Ich brauchte zunächst eine Begleittherapie, denn auf eine Hormontherapie ohne psychotherapeutische Begleitung würde sich eine Endokrinologie wohl kaum einlassen. Zumindest nicht in meinem Fall. Also ging ich auf die Suche. Ich weiß nicht mehr, wie viele E-Mails ich verschickte, wie oft ich auf Anrufbeantworter sprach oder auch mal sprechen ließ. Aber an die Zahl der Antworten werde ich mich wohl immer erinnern, denn ich bekam keine einzige. Ich brauchte Hilfe und wandte mich an die Trans* Inter* Beratungsstelle der Münchner Aidshilfe. Doch auch für meine Sachbearbeiterin, die sich mehrere Monate damit beschäftigte, einen Platz für mich zu finden, irgendwo in oder um München, waren die Reaktionen ernüchternd.
Innerhalb von drei Monaten gaben nur zwei Therapeutinnen eine positive Rückmeldung, die Liste der Absagegründe war wirklich vielfältig. Doch der häufigste Grund war die Barrierefreiheit. Apropos Barrierefreiheit. Wusstest du, dass nur 36,7 Prozent der Arztpraxen in Deutschland wenigstens ein Merkmal der Barrierefreiheit erfüllen?1 Auch die beiden antwortenden Therapeutinnen besaßen keine Räumlichkeiten, die für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zugänglich wären. Schließlich wurde mir von einem der beiden angeboten, meine Sitzungen online zu absolvieren. Natürlich willigte ich sofort ein, allerdings war eine derartige Unzugänglichkeit psychotherapeutischer Angebote eine schockierende Erfahrung für mich. Wie kann der Zugang zu einer medizinischen Versorgung für behinderte Menschen, völlig unabhängig von dem trans Thema, so katastrophal sein?
Die Onlinesitzungen funktionieren ziemlich gut und ich bin immer noch froh über diese Möglichkeit. Doch erst im weiteren Verlauf meiner Begleittherapie wurde mir wirklich klar, wie unvorbereitet das psychotherapeutische System ist, wenn es um behinderte Menschen geht. Denn nach einigen Monaten regte mein Therapeut an, dass ich mich langsam nach einer Endokrinologie umsehen sollte. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich schon wieder zur Beratungsstelle dackeln, doch die Suche nach einer Endokrinologie war nach zwei Anrufen erfolgreich. Ich fand direkt eine Praxis, die ich betreten konnte. Auch wenn es keine Toiletten für Menschen wie mich gab, aber man nimmt in solchen Situationen zähneknirschend was man kriegt.

In den folgenden Wochen und Monaten hörte ich von verschiedensten Ärzt*innen immer wieder die gleiche Botschaft. Diese war immer etwas unterschiedlich formuliert, doch der Inhalt lautete gleichbleibend:
„Jemanden wie Sie gab es bisher nicht. Sie sind ein Einzelfall, daher gibt es keine belastbaren Daten.“
Diese Aussage offenbart eine riesige Lücke in der Betrachtung des Themas. Ich bin mit Sicherheit nicht der einzige trans Mensch mit einer Behinderung, diese Annahme ist absurd, immerhin leben in Deutschland 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen. Wie sollte ich da bitte die einzige trans Person sein? Selbst wenn man sich nur auf Menschen mit Motoneuronenerkrankungen bezieht, ist die Annahme immer noch unsinnig. Ich kenne mehrere trans Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, manche haben einen Zugang zum System gefunden, andere haben ihn sich erkämpft und wieder andere haben keine Möglichkeiten, keine Unterstützung und damit keinen Zugang zu Hilfe.

Die Frage, die es sich in diesem Zusammenhang als einzige zu stellen lohnt, lautet: Warum sollten behinderte Menschen nicht trans sein? Wenn wir anfangen Eigenschaften als unvereinbar darzustellen, führt das letztlich zu Diskriminierungen und Ausschlüssen. Ich bin behindert und trans. Beides ist ein wichtiger Bestandteil meiner Persönlichkeit und als solche sind diese Eigenschaften nicht trennbar. Sollten wir wirklich an einen Punkt in unserer Gesellschaft kommen wollen, an dem wir den Menschen gerecht werden können, müssen wir die Idee, dass es nur Mann und Frau gibt, dass alle Körper einer Norm entsprechen und dass es nur einen Weg gibt, um die eigenen seelischen und körperlichen Bedürfnisse zu erfüllen, hinter uns lassen.
Es reicht nicht aus, Raum für trans Menschen oder behinderte Menschen oder BIPoC oder für wen auch immer zu schaffen. Denn so trennen wir Identitäten, die wir eigentlich verbinden müssten, weil sie in den betroffenen Menschen schon immer verbunden waren. Soziale Gerechtigkeit erreichen wir nur dann, wenn wir aufhören so zu denken und anfangen, kollektiv zu denken. Denn Behindertengerechtigkeit ist LGBTIQ*+-Gerechtigkeit, ist antirassistische Gerechtigkeit, ist Gesundheitsgerechtigkeit und so viel mehr.

Photo by Meuselmedia

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