Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung: Wenn Ignoranz zur Methode wird

Die Bühne des Randgruppenkrawall. Vor der Bühne steht die Band Drumadama und spielt, auf der Bühne stehen die Gebärdensprachendolmetscherin und die Moderatorin. Am unteren Bildrand steht in großen gelben Buchstaben "Chris Lily Kiermeier".

Meine Rede zum Thema sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung auf dem Randgruppenkrawall 2023.

Die Videos vom letzten #Randgruppenkrawall sind da!😊

Auf dem Marienplatz in München gab es viele starke Reden rund um das Thema Inklusion. Meine kurze Rede handelt von sexueller Gewalt an Menschen mit Behinderung. Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch sind Themen, die unsere gesamte Gesellschaft betreffen.

Doch als Gesellschaft versagen wir kläglich, wenn es um Prävention geht und um Hilfe für die Überlebenden dieser widerwärtigen Verbrechen. Wir sehen nicht hin, wir hören nicht zu, wir geben Betroffenen die Schuld und wir zweifeln sie an. Das ist keine Unterstützung, sondern Täter*innenschutz. Bei Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen wird oftmals gar nicht erst ermittelt.

Wir bringen diese Menschen zum Schweigen, immer und immer wieder, bis die Hoffnungslosigkeit so groß ist, dass sie von selbst aufhören zu reden. Die Zahlen sind erschreckend und die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch deutlich höher, wie immer bei diesem Thema.

Die Videos sind aktuell noch ohne Untertitel für die Gehörlosen, da noch keine Texte von den beauftragten Schriftdolmetscherinnen vorhanden sind. Das kommt aber so schnell wie möglich, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.

Meine persönliche Highlight-Rede war übrigens von Martina Brand zum Thema inklusive Bildung. Schaut also bitte auch in die anderen Reden rein.

Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung: Wenn Ignoranz zur Methode wird

Sehr geehrte Anwesende

Bevor ich beginne, möchte ich mich bei Patricia Koller und dem Behindertenverband Bayern für das unermüdliche Engagement bedanken, das in diese Demonstrationen investiert wird und dass all diesen wichtigen Themen immer wieder eine Bühne geboten wird. Danke.

Für diejenigen unter den Zuhörenden, die mich noch nicht kennen, möchte ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Chris Lily Kiermeier, ich bin Bloggerin und Aktivistin für queere Menschen und Inklusion. Eines meiner Themenfelder dreht sich um eine frei entfaltbare und selbstbestimmte Sexualität.

Um sexuelle Selbstbestimmung geht es mir auch heute. Normalerweise würde ich jetzt darüber sprechen, wie man sich selbst diesbezüglich entwickeln kann. Über Selbstreflexion, Bedürfnisse und Wünsche, Tipps und Tricks, um mit dem eigenen Körper gut umgehen zu können, und über die Vielfältigkeit von Lust. Doch heute tue ich das nicht, heute möchte ich mit euch darüber sprechen, was passiert, wenn die sexuelle Selbstbestimmung  verletzt wird. Es geht um sexuelle Gewalt.

Ich weiß, es ist ein schwieriges Thema. Etwas, worüber wir nicht gerne sprechen, weil wir die Geschichten nicht hören möchten, weil es uns unangenehm ist, weil es vielleicht schmerzhafte Erinnerungen in uns selbst weckt. Doch wir müssen darüber sprechen, auch öffentlich, auf Bühnen wie dieser, weil Schweigen die falschen Menschen schützt. Um zu verstehen wovon ich hier spreche, müssen wir zunächst klarstellen wo sexuelle Gewalt beginnt.

Sexualisierte Gewalt bezeichnet nicht nur körperliche Übergriffe wie Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und Missbrauch, sie beginnt früher und kann relativ subtil sein. Sexualisierte Gewalt beginnt bereits bei jeder Form unerwünschter sexueller Kommunikation, ein anzüglicher oder bewertender Kommentar, Catcalling, die Nutzung von obszöner Sprache und Gesten. Es kann sich auch um aufdringliche Blicke oder verbale Belästigungen handeln, ebenso kann es eine zufällig scheinende Berührung sein. Außerdem ist unsere Welt mittlerweile digital, dementsprechend hat sich auch die sexualisierte Gewalt digitalisiert. Durch die Verbreitung intimer Details oder Film- und Fotoaufnahmen ohne Einwilligung der Betroffenen, durch die unerwünschte Zusendung von pornografischen Bildern oder Videos, oder durch Cybergrooming. Sexualisierte Gewalt bezeichnet also jegliche Übergriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung und sie profitiert enorm von ungleichen Machtverhältnissen.

Die  Übergriffe finden an vielen Orten statt. In Familien, innerhalb von Glaubensgemeinschaften, in Schulen, Sportvereinen, in sozialen Einrichtungen und speziellen Wohnformen. Statistisch betrachtet, war laut einer Studie der Universität Bielefeld jede dritte bis vierte Frau mit Behinderung in ihrer Kindheit und Jugend häufigeren und schwereren Übergriffen ausgesetzt. Die Betroffenen waren zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend ausgesetzt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt, gehörlose Frauen zu 52%, blinde Frauen zu 40%, psychisch kranke Frauen zu 36% und körper-/mehrfachbehinderte Frauen zu 34%. Über männliche Opfer wissen wir wenig, in einer Studie von 1987 sagten allerdings  32% der befragten Männer mit Behinderung, dass sie sexuelle Gewalterfahrungen gemacht haben. Über Menschen die trans* oder inter* sind, gibt es in diesem Zusammenhang gar keine belastbaren Informationen. Wir müssen aber unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen von deutlich höheren Zahlen ausgehen.

Die Gründe für diese Zahlen sind vielfältig. Menschen mit Behinderungen sind oft auf Unterstützung und Pflege angewiesen. Die tägliche Erfahrung, dass andere den Körper pflegen müssen, führt zu einem notwendigen Eindringen in die Intimsphäre der betroffenen Person, bei manchen Menschen kommt es dadurch dazu, dass sie kein ausgewogenes Körpergefühl entwickeln können, insbesondere dann, wenn die Behinderung bereits in der Kindheit vorhanden war: Dadurch fehlt das Wissen; Mein Körper gehört mir, und ich kann selbst über ihn bestimmen. Dabei können Situationen entstehen, die Täter*innen für Übergriffe ausnutzen.

Dieses Wissen um den eigenen Körper und persönliche Grenzen ist die beste Prävention, die wir Menschen mit Behinderung, insbesondere unseren Kindern, geben können. Wir müssen den Menschen von klein auf beibringen, wie ihr Körper funktioniert, wie man gewisse Körperstellen benennt und dass Sexualität etwas Natürliches ist. Denn auch durch die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Nähe macht Mädchen und Jungen mit Behinderungen extrem angreifbar, ebenso wie ein schlechtes Selbstwertgefühl. 

Täter*innen werden jede Situation ausnutzen, die durch mangelndes Wissen oder ein schlechtes Selbstwertgefühl entsteht. Dabei werden sie durch Ängste, Isolation und gesellschaftliche Vorurteile gedeckt. Ein Beispiel? Das Vorurteil, dass sich kein Mensch an Menschen mit Behinderung  „vergreifen“ würde, weil sie von den gängigen Schönheitsidealen abweichen und deshalb weniger attraktiv sind. Ein perfekter Schutz für die Menschen, die diese Verbrechen begehen.

Viele der Betroffenen haben Angst ihre Stimme zu erheben und ihre Geschichte zu erzählen, aufgrund der Machtverhältnisse zwischen ihnen und den Täter*Innen fühlen sie sich abhängig von deren Wohlwollen. Außerdem wissen die Menschen nach solchen Taten häufig nicht, an wen sie sich wenden können. Selbst wenn sie es dann schaffen, ihre Ängste zu überwinden und sich Hilfe suchen, wird ihnen nur allzu häufig nicht geglaubt. Menschen mit Behinderung sind in solchen Fällen oftmals keine gleichberechtigten Opfer, im Falle einer geistigen oder psychischen Behinderung werden die Glaubwürdigkeitskriterien vor Gericht vermutlich nicht erfüllt. Die meisten Fälle landen gar nicht erst vor Gericht.

Es gibt übrigens keine Statistik darüber, wie viele Wohneinrichtungen, soziale Einrichtungen, Schulen oder Werkstätten sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Viele Einrichtungen machen sich mehr Sorgen um ihren Ruf als um die Menschen. Ein erstelltes Präventions- und Schutzkonzept könnte ja suggerieren, dass ein entsprechender Fall dort aufgetreten sein könnte.

Fakt ist, dass das Problem strukturell ist und dass Institutionen sowie wir als Gesellschaft eine hohe Verantwortung für das Vorkommen sexueller Gewalt haben. Von dieser Verantwortung abzulenken, indem Fälle sexueller Gewalt geleugnet und verschwiegen, individualisiert oder dramatisiert werden, führt erfahrungsgemäß zu einem erhöhten Auftreten sexueller Gewalt. Deshalb müssen wir hinsehen und darüber reden.

Danke für die Aufmerksamkeit.

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