Friends with Benefits – Gefühlte Bilder

Wie ein eindrucksvolles Relief erhebst du dich aus dem wenig ersichtlichen Hintergrund, ganz weich und sanft. Als seist du daraus geboren. Leichte hellgraue, fast schon schüchterne Pinselbewegungen ergeben deinen unbedeckten Körper, der mich inne halten lässt. Fast schon übertrieben studiere ich dich, deine leichten Züge, deine geschmeidige Art und wie du dich zu drapieren weißt. Du verrätst mir eine weibliche Person zu sein, die ich betrachten darf. Sinnlich dehnst du dich in die rechte Seite des Bildes hinein. Nur noch zu ahnen sind Hals und Kopf. Empor ragen weiße runde Brüste, deren Warzen spielerisch aufgestellt sind. Von innen aus fließt dein Korpus hinaus aus der linken Bildseite. Kurz nur ist deine untere Scham zu erwähnen. Sie bleibt mir verborgen. Ob sie schon voller Sehnsucht ist? Du bist nicht allein. Eine beinahe zurückhaltende Hand will deinen Körper erobern, berührt dich rechts in Taillenhöhe, streichelt dich, will langsam immer näher zu deinen blanken Erhabenheiten gelangen, die schon lustvoll warten. Feinfühlig beginnt sie über deine gestreckte Bauchpartie zu gleiten, berührt nur knapp deinen Bauchnabel und mag dabei zartseidige Haut verspüren. Deine Erregung wird nun unerträglich für mich, das prickelnde Gefühl von Lust und Reiz bleibt für mich nicht unerkannt. Ich möchte eintauchen, teilnehmen. Empfänglich sein. Doch mir bleibt nur der eindringliche Blick. von Franziska Rückert

Eine wunderschöne erotische Kurzgeschichte aus dem Sammelband FUCK[dis]ABILITY bereitgestellt von Franziska Appel und Benjamin Schmidt.

Vorwort:

Liebe Leser*innen,

dieser Gastbeitrag ist ein wenig anders, als ihr es vielleicht gewohnt seid. Anders in dem Sinne, dass er eigentlich aus einer Kurzgeschichtensammlung stammt. Trotzdem beruht dieser Beitrag auf einem wahren Ereignis. Das Thema dieser Geschichte dreht sich um die sexuelle Erfahrung mit einer sehbehinderten Partnerin. Ich freue mich natürlich sehr, dass wir auch mal so ein Thema hier haben dürfen und bedanke mich an dieser Stelle auch ganz herzlich bei Franziska Appel und Benjamin Schmidt dafür, dass sie mir die Geschichte aus FUCK[dis]ABILITY bereitgestellt haben.

Falls euch diese Sammlung interessiert verlinke ich euch das Buch und das E-book unter der Geschichte. Mehr kommt von meiner Seite erstmal nicht mehr, ich wünsche euch ganz viel Vergnügen beim Lesen, ich hatte dabei jedenfalls sehr viel Spaß.

Gefühlte Bilder.

Ja, ich male. Und das offensichtlich doch so gut, dass ich hin und wieder einen Auftrag bekomme oder meine Bilder für einen gewissen Zeitraum irgendwo ausgestellt werden sollen. Und dann gibt es noch Bekannte oder Leute von meiner Arbeit, die mir ihre leeren Wandflächen in Wohnung oder Büro gerne als Stauraum oder Zwischenlager für meine Bilder anbieten, wenn es an meinen eigenen Wänden langsam zu eng wird. Und so kann es durchaus mal sein, dass ich eine der bemalten Leinwände in ein Handtuch oder ein Bettlagen hülle und in einer großen Plastiktüte verpackt zum neuen Bestimmungsort transportiere. Da sowieso gerade Winterferien waren, bot sich diesmal sogar die nahezu leere Straßenbahn als Transportmöglichkeit an. Einzig beim Aus- und Umsteigen war das Bild leicht unhandlich. Das führte dann auch dazu, dass ich beim Einsteigen in die nächste Bahn eine Dame leicht touchierte. Erschrocken drehte ich mich um und murmelte schnell irgendeine Entschuldigungsformel… Sie lächelte nur freundlich und winkte ab, blickte dabei aber irgendwie an mir vorbei. Erst dann entdeckte ich diesen gelben Button mit den drei schwarzen Punkten. Bevor ich weiter nachdenken konnte, fragte sie unvermittelt: »Was tragen Sie denn da mit sich herum? Irgendwie sperrig, aber doch so leicht?«

Naja, ich fand schon irgendwie, dass sie ein Recht hatte, zu erfahren, was sie denn da angerempelt hatte: »Ein Bild. Das soll bei uns im IT-Büro hängen.«

»Selbst gemalt?« Und da war wieder dieser Moment, wo ich mir jedes Mal ein bisschen so vorkam wie ein kleines Kind, das mit seinen Kritzeleien stolz zu Mama und Papa geht, um sich dann ein ›fein gemacht‹ abzuholen. Allerdings, sie konnte ja offensichtlich nichts oder zumindest nur sehr schlecht sehen. Auch wenn sie mich, nun, da ich etwas gesagt hatte, fast direkt anblickte. Und ja, ich meinte tatsächlich Interesse in ihrem Blick zu erkennen. Nun konnte auch ich mir ein Lächeln nicht verkneifen: Irgendwie schon ein bisschen skurril. Normalerweise gibt es doch nur genervte Blicke, wenn sich Personen im öffentlichen Nahverkehr ungewollt zu nahe kommen. Eigentlich auch wieder ein schönes Wortspiel: Die Straßenbahnen waren, zumindest um diese Zeit sowieso meist so voll, dass man sich unweigerlich nahe kommen musste. Aber eben nur körperlich; und das eher ungewollt. Und nun stoße ich hier eine Person mit meiner bemalten Leinwand an und sie möchte wissen, was es ist. Lag es vielleicht wirklich an ihrer Blindheit? Andere hätten sich diese Frage wohl schnell mit einem genervten Blick erklären können…

»Ja, ich male ab und zu.« Sie lachte. »Ich dachte, die hängt man dann an die Wand und fährt damit nicht umher… Kann ich es mal sehen?«

Ähmmm… Wie jetzt? Wurde ich gerade von einer blinden Frau gefragt, ob sie mein Bild sehen kann? Nee, ich war wach und ich befand mich in der Straßenbahn auf dem Weg zu meiner Arbeit. Das stimmte zumindest alles. Aber diese Frage? Ich meine, ich weiß doch gar nicht, ob und was sie sehen kann. Wie soll ich denn wissen, ob sie dann mein Bild sehen kann? Irgendwie merkte ich, wie mich diese Frage ein bisschen an meine Grenzen brachte, was wohl auch ein wenig der frühen Stunde geschuldet war. Aber letztlich kann sie sich diese Frage doch nur selber beantworten. Würde sie das Bild sehen können? Wie würde sie es sich ansehen? Wäre sie enttäuscht, wenn sie nichts erkennt? Schon machte meine Verwunderung meiner grenzenlosen Neugier Platz.

»Klar.«, meinte ich und begann das Bild aus der übergroßen Baumarkt-Tüte und dem schwarzen Badetuch zu befreien. Okay, und wie weiter? Keine Ahnung. Wie schauen sich denn Blinde normalerweise Bilder an? Bisher wäre ich nie nur im Entferntesten auf die Idee gekommen, dass Menschen, die nichts sehen, irgendein Interesse an Bildern oder Kunst haben. Also Augen zu und durch oder so ähnlich.

Ich hielt ihr das Bild einfach vor die Nase. Ziemlich dicht, da ich wohl der Annahme war, dass sie es so einfacher erkennen könnte und da so eine Straßenbahn eben auch nicht ganz so viel Ausstellungsfläche bietet.

»Na mal sehen, was ich erkennen kann.«, meinte sie nur und begann mit ihrem Gesicht in unterschiedlichen Winkeln vor dem Bild hin und her und auf und ab zu fahren.

»Mir gefallen diese Farben. Diese Gelbtöne mit ein bisschen Rot im Hintergrund und das Motiv, ist das Blau?«

»Ja, das ist ein ziemlich dunkles Blau. Wirkt beinahe Schwarz.«

»Was stellt es dar?«

»Ähmmm… Es ist ein schwarzblaues Pferd. Es wirkt wild und ungezügelt und scheint diesen Zustand sichtlich zu genießen und stürmt förmlich auf den Betrachter zu.«

»Sehr schön. Ein wirklich schönes Motiv. Darf ich es mal berühren?«

Ein Bild, das ich so provisorisch verpackt in der Straßenbahn transportiere, ist nun auch wirklich nicht besonders wertvoll und außerdem ist Acrylfarbe recht robust.

»Mach nur.«, meinte ich und schaute ihr gebannt dabei zu, wie sie sich mein Bild Stück für Stück zu erarbeiten schien. Sie hatte wunderschöne feingliedrige Hände und ihre Fingerspitzen fuhren sanft den Strukturen nach, die mein Pinsel auf der Leinwand hinterlassen hatte. Hatte jemals jemand eines meiner Bilder so genau betrachtet? Mist! Vorletzte Haltestelle, bevor ich raus musste.

»Ich muss gleich raus. Kannst du das Bild bitte mal kurz halten, damit ich es wieder einpacken kann?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte ich es ihr einfach in ihre schönen Hände und begann das Badetuch und die Tüte zu sortieren. »In etwa einem Monat veranstalte ich eine kleine Ausstellung. Hättest du Lust zur Vernissage zu kommen?«

»Ja, total gerne.« Sie kramte in ihrem Rucksack. Dabei fiel mein Blick auf ihren Blindenstock, den sie zusammengeklappt im Rucksack verstaut hatte. Sie konnte also offensichtlich wirklich so gut wie nichts sehen. Hatte ich gerade tatsächlich eine fast Blinde zu einer Gemäldeausstellung eingeladen? Verrückt! Sie machte den Rucksack wieder zu und drückte mir eine Visitenkarte in die Hand. »Schreib mir doch einfach eine Mail mit den Details.«

Noch vor ein paar Minuten hätte ich mich wohl verwundert gefragt, ob sie Emails überhaupt lesen könnte. Aber wenn sie sich durch ihre Behinderung schon nicht davon abhalten lässt, sich Bilder anzusehen, wird sie wohl auch für Mails ihre Möglichkeiten haben. Die Bahn hielt. Ich steckte mir die Karte ein, nahm das fertig verpackte Bild und ging zum Ausgang. Erst jetzt bemerkte ich die Blicke der Leute in der Bahn. So überrascht, sprachlos, neugierig und erstaunt, wie sie mich anblickten, hatten sie uns wohl die ganze Zeit genau beobachtet. Aber was soll’s, ich hatte gerade das schönste Kompliment für ein Bild bekommen, das es wohl geben kann. »Mach’s gut,«, rief ich im Hinausgehen, »ich melde mich!«

Ich musste die ganze Zeit daran denken, wie sie ihre Finger sanft über das Bild streichen ließ. Als würde sie die Farben streicheln. Als würde sie mit ihren Fingern jeden Millimeter betrachten. Was für Hände! Welche Zärtlichkeit in ihren Bewegungen steckte. Es machte mich ganz verrückt.

Später, nachdem ich das Bild an die freie Wand im IT-Büro gehängt hatte, zog ich ihre Karte aus meiner Jackentasche. Sie hieß Constanze und hatte eine Praxis für Physiotherapie. Daher wohl auch diese einfühlsamen Hände. Wie es sich wohl anfühlt, wenn sie mit derselben Hingabe, mit der sie das Bild ertastet hat, über die Haut streicht? Allein bei dem Gedanken begann es zu kribbeln und ich bekam eine leichte Gänsehaut.

Ich wollte ihr unbedingt sofort schreiben. Aber kommt das nicht ein bisschen komisch rüber? So von einem Mal Bild in der Straßenbahn anschauen und dann sofort schreiben müssen? Nee, das geht nicht. Ich verschrecke sie sonst noch. Naja, vielleicht schreibe ich ihr gleich, schicke die Mail aber einfach erst ein oder zwei Tage später ab? Sonst kann ich mich sowieso nicht mehr wirklich auf meine Arbeit konzentrieren. Also begann ich die Mail. Aber was sollte ich schreiben? Oder besser, was wollte ich eigentlich schreiben? Sie zu der Ausstellung einladen? Das wäre schnell erledigt. Einfach die offizielle Einladung, die es sowieso schon gab, in die Mail reinkopieren, fertig. Nein, das war es nicht. Da war irgendwie mehr…

Die Fahrt war einfach viel zu kurz gewesen. Aber was hätte ich ihr gesagt, wenn die Fahrt noch länger gewesen, oder wenn sie an derselben Haltestelle mit ausgestiegen wäre? Keine Ahnung. Ich tippte drauf los. Nee… das geht so nicht! Löschen… Wieder tippen…

Ich fühlte mich so wie früher, als wir uns in der Klasse die ersten total ungeschickten Liebesbriefe geschrieben haben. Völlig peinlich. Meistens irgendwelche englischen Songtexte einfach ins Deutsche übersetzt. Mehr Schmalz geht eigentlich nicht. Aber damals ging es, da es alle so oder ähnlich gemacht haben. Aber nun war ich erwachsen. Da musste doch irgendwie mehr kommen. Kam aber nicht. Also kopierte ich einfach doch nur den Einladungstext in die Mail. Ich las es mir durch. Nein. Nein, viel zu unpersönlich. Das geht nicht. War ja schon irgendwie ein besonderer Moment, der auch gewürdigt werden musste. Also wieder tippen, löschen, tippen…

»Hallo Constanze, ich bin diese eigenartige Person, die Bilder mit der Straßenbahn transportiert. Übrigens hat noch nie jemand etwas Schöneres über meine Bilder gesagt, als du heute Morgen. Ich würde mich daher sehr freuen, wenn du am 27. Mai zu meiner Vernissage in die alte Stadtbibliothek Vogelweg 28 kommst. 19 Uhr geht’s los. Viele Grüße.«

So wirklich zufrieden war ich damit auch noch nicht, aber erstmal abspeichern und dann endlich anfangen zu arbeiten. Naja, so ganz klappte es an diesem Tag nicht mehr mit der Konzentration. Diese Hände, dieses Lächeln. Und überhaupt diese gesamte skurrile Situation in der Straßenbahn. Hätte ich einem anderen wildfremden Menschen in der Bahn ebenfalls mein Bild gezeigt? Oder hatte es mich nur gereizt, weil ich neugierig war, wie die Blinde es anstellen würde? Sie hat mein Bild ja förmlich liebkost, ganz zärtlich gestreichelt. Wieder dieses Kribbeln, diese Gänsehaut. Nein, sonderlich konzentriert konnte ich wirklich nicht arbeiten. Am Abend packte ich den Beutel und das Handtuch, das mir zum Bildertransport gedient hatte, aus dem Rucksack aus. Während ich den Beutel schnell beiseite packte, hielt ich das Handtuch, einem plötzlichen Impuls folgend fest und legte es an meine Wange. Sie hatte es berührt, als ich das Bild wieder eingepackt habe. Mit ihren unglaublich feinfühligen Händen…

Nachts im Traum sah ich die Szene immer und immer wieder vor mir, wie ihre Finger zärtlich den Linien und Farben des Bildes nachspüren. Nur folgen sie diesmal den Linien eines völlig anderen Motivs. Den Rundungen einer Hüfte, den feinen Linien eines halb geöffneten Mundes und der Wölbung einer sich lustvoll entgegenreckenden Brust. Auch ging dieses Sehen langsam aber sicher in ein Fühlen über. Was für ein Traum! Ich kam mir, nachdem er mir nach dem Aufwachen wieder ins Bewusstsein rückte, beinahe ertappt vor. Ich konnte mich nicht erinnern, einen solch schwärmerischen Traum jemals schon erlebt zu haben. Was hatte mich gepackt? Warum gerade diese Frau? Sie sah eigentlich ziemlich durchschnittlich aus. Vermutlich so um die vierzig Jahre alt, normal gebaut und wäre da nicht diese gelbe Plakette mit den drei schwarzen Punkten, wäre wohl überhaupt nichts Auffälliges an ihr.

Ob mich das so reizte? Wahrscheinlich war es einfach diese Offenheit, mit der sie mich angesprochen hatte. Und es hatte schon etwas sehr Souveränes und Selbstbewusstes an sich, wie sie mich gefragt hatte, ob sie das Bild betrachten könne. Hätte ich nie einem Menschen mit Behinderung zugetraut. Hat mich das so beeindruckt?

Aber wenn ich an sie dachte, dann waren es doch ihre Hände, die mir in den Sinn kamen und aus denen eine unglaubliche Zärtlichkeit sprach. Da hatte ich mich wohl tatsächlich in ein paar Hände verliebt.

Ich beeilte mich, damit ich genau wieder zur gleichen Zeit wie gestern in die Bahn stieg. Und offensichtlich hatte sie es sich genauso überlegt. Vielleicht nahm sie sowieso jeden Morgen die gleiche Bahn und ich hatte es bisher einfach nur nicht bemerkt, da ich in ein Buch oder das Handy vertieft war und so früh morgens meine Umwelt sowieso kaum eines Blickes würdigte. Aber nicht heute. Da war ich hellwach und aufgeregt, als ich sie sah. Nur, wie sollte ich sie ansprechen? »Hallo, wir kennen uns von gestern?« oder »Hallo, ich habe eine Mail bereits formuliert und dann doch nur abgespeichert anstatt sie abzuschicken?« oder »Ich habe von dir geträumt?« Nein, das ging wohl alles nicht.

»Guten Morgen, du fährst wohl immer mit dieser Bahn?«

»Schon möglich«, gab sie mit einem Grinsen zurück und fügte dann noch hinzu: »Ich hatte eigentlich schon gestern mit einer Mail von dir gerechnet.«

Oha, offensichtlich hatte sie doch mehr geahnt. Ein bisschen fühlte ich mich jetzt schon ertappt. »Ähm, ich bin einfach gestern noch nicht dazu gekommen.«, stammelte ich, was nur dafür sorgte, dass ihr Lächeln noch ein bisschen breiter wurde und ich rot anlief, da ich mich komplett ertappt fühlte.

An diesem Tag schickte ich die Mail ab. Und ich bekam auch gleich am Abend eine Antwort: »Vielen Dank für die Einladung. Ich bin dabei. Bis morgen früh, Constanze.«

War das jetzt sowas wie ein Date? In der Straßenbahn? Aber, nachdem wir die Tram nun schon als Kunstgalerie benutzt hatten, konnte sie wohl auch ein Ort für Verabredungen sein.

In den nächsten Tagen wurde es so etwas wie ein kleines morgendliches Ritual. Ich stieg ein, wir erzählten für etwa fünf Minuten und ich stieg wieder aus. So sehr hatte ich mich noch nie gefreut, immer wieder die gleiche Bahn pünktlich zu erwischen. Klar, wir hätten uns auch per Mail austauschen können, aber irgendwie blieb es vorerst bei unserem morgendlichen Speed-Datings.

Der Tag der Vernissage rückte näher. Ich war sehr gespannt, denn diesmal würde das Treffen ja deutlich länger als nur fünf Minuten dauern. Wir hatten uns verabredet, dass wir uns an der Haltestelle treffen und ich sie mit in die alte Stadtbibliothek nehmen sollte. Ich war gespannt, wie das wohl laufen wird. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe sie ja bisher nur sitzend in der Straßenbahn erlebt. Wie sollte ich sie begleiten? Wie funktioniert das bei einer, die kaum etwas sieht?

Da ich direkt von meiner Arbeit kam, fuhren wir diesmal nicht zusammen in einer Tram. Ich stand schon etwas vor der verabredeten Zeit an der Haltestelle und wartete. Sie saß wie gewöhnlich ganz hinten in der Bahn. Beim Herankommen der Bahn sah ich bereits wie sie aufstand. Den Rucksack auf dem Rücken und den Stock, noch zusammengeklappt in ihrer Hand. Als die Bahn hielt, stieg sie aus und blieb an der Haltestelle ein paar Schritte von der sich schließenden Straßenbahntür entfernt stehen. Sie nahm den Stock jetzt nur am oberen Griff und ließ den Rest nach unten klappen, sodass sich der Stock mit ein paar schnell aufeinanderfolgenden Klacklauten zu seiner vollen Länge aufbaute. Ich ging auf sie zu. »Hallo Constanze. Welch ungewöhnliche Zeit und welch ungewöhnlicher Ort, um dich zu treffen.« Nein, die Worte waren mir keineswegs spontan in den Sinn gekommen. Auf der Herfahrt hatte ich sie mir sehr sorgfältig zurecht gelegt. Immerhin wollte ich möglichst gekonnt über meine Aufregung hinweg spielen. Was würde der Abend bringen? Und was habe ich mir eigentlich überhaupt dabei gedacht, eine Blinde mit zu einer Ausstellung zu nehmen? Ist doch eigentlich völlig absurd. Ja, eigentlich und von außen betrachtet. Aber sie war inzwischen für mich der Mensch geworden, den ich an so einem besonderen Abend unbedingt an meiner Seite haben wollte. Und das war es, was heute für mich zählte.

»Na, schon aufgeregt?« erwiderte sie mit einem beinahe frechen Lächeln im Gesicht. »Naja, schon ein wenig. Äh, wie stellen wir das jetzt am besten an? Also… wie soll ich dich jetzt… ähm… anfassen? Äh… führen?«

Sie lachte. »Also am besten reichst du mir einfach deinen Ellenbogen, damit ich mich daran festhalten kann. So bist du immer einen halben Schritt vor mir und ich kann dir gut folgen.«

Gesagt getan. Sie hatte sich für diesen Abend etwas schicker angezogen. Mit einer schwarzen Stoffhose und einer anthrazitfarbenen Bluse wirkte sie schon elegant, aber durch das Weglassen eines Blazers und die flachen Schuhe noch immer sportlich. Ich konzentrierte mich darauf, den Weg für uns beide im Blick zu behalten und mir gleichzeitig meine Nervosität und Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Sie fasste mich auch nur ganz sacht an meinem Ellenbogen an. Mit ihren sanften Händen.

Täuschte ich mich oder strich sie mir gerade tatsächlich fast unmerklich mit dem Zeigefinger über die Haut? Ihre Fingerspitzen waren tatsächlich unglaublich sanft. Ich bekam eine leichte Gänsehaut und hoffte, dass sie es nicht bemerken würde. Aber da waren wir auch schon in der alten Stadtbibliothek angekommen.

Der Abend war grandios! Der Sekt hat wohl auch ein bisschen dazu beigetragen, dass ich alles etwas lockerer nahm und gar nicht mehr groß darüber nachdachte, was ich tat. Nach der offiziellen Begrüßung der Anwesenden und einigen Worten über die Ausstellung, war für mich der offizielle Teil des Abends erledigt. Mit meinem Glas in der Hand, ging ich auf Constanze zu: »Darf ich bitten?«

»Ja, sehr gerne.«, antwortete sie und ergriff meinen Ellenbogen. Diesmal hakte sie sich aber weit weniger distanziert unter. Den Stock hatte sie zugunsten des Sektglases zusammengeklappt auf dem Stehtisch liegen gelassen.

So gingen wir einfach ein Bild nach dem anderen ab und ich beschrieb ihr, was darauf zu sehen war. Hin und wieder fragte sie, was denn meine Inspiration für dieses oder jenes Motiv gewesen sei, warum ich genau diese Farben gewählt habe und welche Größe das Bild insgesamt hätte. Diese besondere Führung zog auch die Aufmerksamkeit der anderen Gäste, die meistens in kleinen Grüppchen herumstanden und sich unterhielten, auf sich. Einige hielten in ihren Gesprächen innen und schauten uns an. In ihren Blicken vermutete ich Irritation, Skepsis aber auch Neugier zu erkennen. Einige von denen mit den neugierigen Blicken hatten den Mut gefunden, sich dieser Privatführung anzuschließen und meinen Ausführungen zu lauschen. Und auch andere trauten sich schließlich nachzufragen.

Durch das Beschreiben des eigentlich Offensichtlichen entspannen sich einige interessante Diskussionen, die mir ganz klar verdeutlichen, wie subjektiv das Erleben von Kunst sein kann und wie jeder Mensch da eine eigene Geschichte entwickeln kann. Ich hätte nie gedacht, dass gerade die Anwesenheit und die Fragen einer blinden Person eine Bilderausstellung so beleben könnte. Ein wirklich besonderes Gefühl. Und inzwischen war ich mir auch ganz sicher, dass sie sich nicht nur des Führen willens an mir festhielt. Nein, inzwischen strich sie so ziemlich offensichtlich immer mal wieder über meinen Arm und ich genoss jede ihrer Berührungen.

Nach dem Ende des offiziellen Teils wollte ich sie noch auf einen Rotwein in eine Bar um die Ecke einladen. Leider war es dort bereits sehr voll.

»Ich habe auch noch ein oder zwei Flaschen Wein bei mir zu Hause.«, meinte Constanze. »Also, wenn es dir hier zu voll ist, können wir auch bei mir noch was trinken.« Ja, ich glaube, in diesem Moment wirkte die Bar schlagartig gleich noch ein bisschen voller.

»Gerne«, erwiderte ich und mit einem breiten Grinsen: »Wo darf ich uns denn jetzt hinführen?«

Der Wein war irgendwie zweitrangig als wir in ihre Wohnung kamen. Ich wollte nur noch von ihr berührt werden. Von ihren Händen. Diese unglaublich sanften Hände sollten jede Faser meine Körpers neugierig und behutsam ertasten. Sie schloss mich in ihre Arme und begann zärtlich und verlangend zugleich meinen Körper zu ertasten. Ich ließ mich fallen.

»Darf ich dich zeichnen?« Diese Worte holten mich abrupt wieder nach oben. Hatte sie gerade gesprochen?

»Was?«, mehr konnte ich vor Verblüffung nicht sagen. Das passte so gar nicht ins Bild. Nach dem Streicheln hätte es jetzt eigentlich so langsam an die Klamotten gehen sollen. Aber zeichnen? Sie?

»Ja, ich würde dich zu gerne zeichnen. Nackt.«

Okay, immerhin bezüglich der Kleidung waren wir noch auf einer Linie.

»Aber wie?«, stammelte ich leicht irritiert.

»Lass dich überraschen. Zieh dich aus und mach es dir auf dem Sofa bequem. Ich bin gleich wieder da.«

Schon verschwand sie und tauchte, kaum dass ich mich ausgezogen und auf dem Sofa drapiert hatte, mit einem Block und einer Schachtel wieder auf. Sie legte alles auf den Tisch und öffnete die Schachtel Pastellkreiden. Sie hatte also wirklich vor, mich zu malen.

Sie öffnete den Block, der ein paar Bögen sehr derbes und raues Zeichenpapier enthielt. Sie nahm eine Kreide nach der andern und hielt sie sich dicht vor die Augen, bis sie offensichtlich die gewünschte Farbe gefunden hatte. Dann schob sie den Tisch direkt vor das Sofa und setzte sich zu mir. Mit der linken Hand fuhr sie sanft über meinen Körper und mit der rechten begann sie leicht quietschend und kratzend Linien auf das Papier zu zeichnen. Konzentration und Hingabe zeichneten sich in ihrem Gesicht ab. Ein Ausdruck, der mich schwach werden ließ… Ich traute mich kaum zu atmen, aus Angst, sie zu unterbrechen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Linien, die sie auf meinem Körper entlang fuhr, um sie auf Papier zu übertragen.

Ihre Finger tasten über mein Gesicht, die geschlossenen Augen, den leicht geöffneten Mund. Sie lässt keinen Millimeter aus. Irgendwann folgen den forschenden Fingerspitzen die hungrigen Lippen, die langsam meinen Hals hinab kribbeln.

»Du bist schön.«, haucht sie in mein Ohr, während sie die Kreide auf dem Tisch ablegt, damit sie mit beiden Händen meinen Nacken liebkosen kann. Ihre Fingerspitzen kokettieren mit meiner Gänsehaut, während die Lippen kurz – ein wenig fester – meine Brustwarzen umschließen. Ein leichtes Zittern fährt durch meinen Körper. Sie haucht einen zärtlichen Kuss auf meinen Bauchnabel und fährt dann mit ihren Lippen in kleinen Kreisen weiter hinab. Die Berührungen werden intensiver – verlangender. Das Prickeln im Bauch, zieht sich zum Brustkorb hinauf und lässt mich schneller atmen, die Umgebung schwindet. Ihr Mund ist inzwischen an seinem Ziel zwischen meinen Beinen angekommen und gibt die Zunge zum lustvoll gierigen Spiele frei.

Ihre Hände umfassen meine Hüften: greifen, reiben, massieren. Meine Beine erbeben, während ich ihr unwillkürlich mein Becken entgegen recke. Wellen der Erregung durchfluten meinen Körper, lassen ihn zucken und stöhnen, bis ich schließlich heiß und erschöpft in die Kissen sinke. Nein, ihre Augen können mich nicht erblicken, doch nie hat mich jemand durchdringender betrachtet. Wie das Bild am Ende aussah, weiß ich gar nicht. Ich habe vergessen, einen Blick darauf zu werfen. Ich weiß nur, dass es mit Sicherheit mein absolutes Lieblingsbild ist.

Aus FUCK[dis]ABILITY von Franziska Appel und Benjamin Schmidt, erschienen bei Edition Outbird

Das Buch könnt ihr hier im Outbird Shop kaufen. Das E-Book gibt es über Feiyr.

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