Bei aller Liebe! Sexualität mit Behinderung.
Am 07.10.21 fand in Stuttgart die Veranstaltung „Marktplatz Inklusion – Stark sein und etwas verändern“ statt. Hier veröffentliche ich nun den Text meiner Rede Bei aller Liebe! Sexualität mit Behinderung”.
Das Thema Inklusion betrifft uns alle, die gesamte Gesellschaft, nicht nur eine kleine Gruppe von Menschen. Außerdem ist Inklusion äußerst vielfältig, sie findet auf völlig unterschiedliche Art und Weisen statt.
Für Menschen die sich mit dem Thema beschäftigen, sind das keine neuen Erkenntnisse. Trotzdem können auch wir immer wieder neue Perspektiven bekommen, um an Dinge zu denken, die wir vielleicht nicht auf dem Schirm haben. So kann man auch Projekte kennenlernen die man bisher nicht kannte.
Die Veranstaltung „Marktplatz Inklusion – Stark sein und etwas verändern“ der Volkshochschule Stuttgart gab den Teilnehmenden eine gute Gelegenheit dafür. Beispielsweise konnte Christian Helferich, der seit sieben Jahren das inklusive Hotel und Restaurant Anne-Sophie leitet, äußerst eindrucksvoll schilder, wie man einen erfolgreichen Betrieb inklusiv gestalten kann, wenn man denn möchte. Es wurde aber auch klar, dass Inklusion kein Trend ist der sich irgendwie vermarkten lässt.
Ich hatte ebenfalls die Gelegenheit die Sichtweise der Anwesenden auf ein Thema zu lenken, welches normalerweise kaum Beachtung findet. Daher möchte ich mich im nochmals bei den verantwortlichen Personen bedanken, sowohl für die Einladung, als auch für den Raum der diesem sehr persönlichen Thema hier eingeräumt wurde. Danke.
Meine kleine Rede “Bei aller Liebe! Sexualität mit Behinderung.” könnt ihr hier natürlich noch nachlesen, viel Spaß dabei.
Bei aller Liebe! Sexualität mit Behinderung.
Sex ist in unserer heutigen Gesellschaft ein Teil unseres Alltags, mal mehr und mal weniger dezent. Wir werden eigentlich ständig damit konfrontiert, sei es in der Werbung, in Filmen und im Fernsehen, z. B. in Dating Shows, die auch immer vielfältiger werden, aber auch in Videospielen oder Magazinen und Zeitungen. Die Art und Weise, wie uns das Thema präsentiert wird ist dabei extrem unterschiedlich, aber eine Aussage bleibt wohl immer richtig: Sex sells!
Zumindest marketingtechisch bleibt die Aussage immer richtig, doch es ist leider so, dass trotz unserer ständigen Konfrontation mit dem Thema und der wachsenden Offenheit die Sexualität mit einer Behinderung immer noch eines der größten Tabuthemen unserer Gesellschaft ist. In dem folgenden Vortrag soll es darum gehen gewisse Unterschiede zu beleuchten, beispielsweise den Unterschied zwischen der sexuellen Problematik bei Menschen mit einer angeborenen Behinderung und einer erworbenen Behinderung. Außerdem befasse ich mich mit der Diskrepanz zwischen selbstbestimmt lebenden und in betreuten Wohnformen lebenden behinderten Menschen, dem Zugang zum eigenen Körper und der eigenen Akzeptanz.
Beginnen wir doch am besten an dem Punkt, an dem die Sexualität für die allermeisten Menschen zum ersten mal ein Thema wird; nämlich in der Pubertät. Menschen, die abled bodied geboren werden und das Glück haben ohne Krankheit oder Unfall durch ihre Pubertät zu kommen, erleben in der Regel glücklicherweise eine völlig gesunde, weil freie, Sozialisierung im Bereich der Sexualität. Das Kennenlernen des eigenen Körpers, das Hinterfragen der sexuellen Orientierung, die ersten Erfahrungen mit anderen Menschen. Diese Dinge sind ein natürlicher Prozess, der abled bodied Teenagern in den meisten Fällen möglich ist. Auch wenn es unter gewissen Umständen durchaus Schwierigkeiten geben kann.
Wenn es nun dazu kommt, dass ein solcher Mensch eine Behinderung erwirbt, wird sich der Zugang zur eigenen Sexualität und die Wahrnehmung als sexuelles Wesen durch andere Menschen höchstwahrscheinlich verändern. Je schwerer die Behinderung ausfällt, umso stärker wird die Veränderung, und umso größer werden die Schwierigkeiten. Diese Menschen bleiben oft mit ihren Fragen alleine. Kann ich überhaupt noch Sex haben? Wie soll ich das denn anstellen? Wer findet mich noch attraktiv? Diese Fragen stellen sich übrigens nicht nur bei Singles, sondern auch in Partnerschaften. Letztlich führt die Vorstellung davon, dass dieser Teil des Lebens unwiderruflich verloren ist, oft dazu dass das das Selbstvertrauen sinkt, Selbstzweifel werden dann schlimmstenfalls zu Selbsthass, depressive Phasen oder ausgewachsene Depressionen folgen, ein Teufelskreis beginnt. Obwohl diese Vorstellung falsch ist.
Menschen die mit einer Behinderung geboren werden, haben oftmals ähnliche Fragen, doch ihre Ausgangssituation ist eine völlig andere. Die Möglichkeit den eigenen Körper kennenzulernen und die ersten Erfahrungen mit anderen Menschen zu machen, ist oftmals kaum gegeben oder sie muss erst hart erstritten werden. Dieses Erstreiten findet im eigenen Umfeld statt, zum Beispiel bei den eigenen Eltern, wenn es dann heißt “Mein Kind tut so etwas nicht!” dieser Satz fällt, in verschiedenen Variationen, auch gerne mit dem Anhang “Wie sollte es auch?” oder “Sowas kann es doch gar nicht.”. Ein Umfeld, welches in einem übertriebenen Maß schützend agiert und diesen Schutz noch mit solchen oder ähnlichen ableistischen Argumentationen stützt, unterdrückt einen wichtigen Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Dazu zählt übrigens auch, wenn man den Mantel des Schweigens über dieses Thema legt, es möglichst weit von sich weg schiebt oder geäußerte Bedürfnisse nicht ernst nimmt. In dieser Phase der Identitätsfindung, die für Jugendliche und junge Erwachsene ganz allgemein kein einfaches Thema ist, denn dabei kommen eben auch Fragen nach der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität und vielleicht auch die ersten Vorlieben und Neigungen auf, brauchen Menschen Verständnis und Unterstützung.
Der bessere Zugang zur eigenen Sexualität ist übrigens einer der großen Unterschiede in den verschiedenen Lebensformen, also dem selbstbestimmten Leben und dem Leben in einer Einrichtung. Wenn ein Mensch mit einer Behinderung selbstbestimmt lebt, sind die Möglichkeiten für das Ausleben der eigenen Sexualität deutlich größer. Partnersuche, One-Night-Stands, Beziehungen oder auch die Inanspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen sind in diesem Szenario eine freie Entscheidung. Natürlich muss man dieses Thema innerhalb eines Assistenzteams besprechen, insofern es ein Assistenzteam gibt, doch eine Blockadehaltung ist hier kaum zu erwarten und sollte gegebenenfalls auch nicht einfach so hingenommen werden.
In einer Einrichtung erlebt man oftmals das Gegenteil. Der Freiraum für die eigene Entfaltung ist hier allgemein sehr begrenzt, folglich ist auch das Ausleben der Sexualität schwierig. Das beginnt ganz allgemein bei der Privatsphäre, geht dann weiter über Besuchsregelungen, feste pflegerische Abläufe und so weiter. Da bleibt ganz einfach wenig Platz für die bereits erwähnten Dinge, also Partnersuche, One-Night-Stands, Beziehungen oder die sexuellen Dienstleistungen. Letztere werden von manchen Heimleitungen auch nicht gerne gesehen, dann blockiert man diesen Weg eben über Hausverbote, wenn es überhaupt soweit kommt, denn dafür müsste man diese Bedürfnisse ja tatsächlich ernst nehmen.
Wenn man irgendwann in die Situation kommt, mit abled-bodied Menschen darüber zu sprechen, warum dieses Thema so tabuisiert ist, stößt man auf Vorurteile. Einige davon habe ich bereits erwähnt, doch ein anderes ist besonders kurios, es lautet “Wir müssen behinderte Menschen vor der Enttäuschung beschützen”. Vor welcher Enttäuschung ist hier die Rede? Nun, hier geht es darum, den behinderten Menschen gewisse Erfahrungen zu verwehren, beispielsweise Liebeskummer, oder sie gewisse Grenzen des eigenen Körpers nicht erleben zu lassen, beispielsweise bei gewissen sexuellen Neigungen wie Bondage. Es soll der Schutz vor einer Frustration sein, doch ich muss zugeben, ich finde dieses Retter*innensyndrom frustrierend. Menschen mit einer Behinderung haben ein Recht auf Scheitern, ein Recht auf Frustration und auch ein Recht darauf ihre Grenzen selbst zu erkunden.
Gerade letzteres ist ein wichtiger Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenen Akzeptanz. Aber was heißt das eigentlich? Was möchte ich sagen, wenn ich von eigener Akzeptanz spreche? Nun, zumindest in der Theorie ist es ganz simpel. Es bedeutet, dass man den eigenen Körper nicht als minderwertig oder kaputt erachtet. Sondern ein Selbstbild entwickelt, welches einem zu verstehen gibt “Ja, ich habe eine Behinderung und ich bin schön.” – “Ja, ich habe eine Behinderung und ich bin sexy.” – “Ja, ich habe eine Behinderung und trotzdem bin ich ein sexuelles Wesen und ich möchte so wahrgenommen werden.”.
Das bedeutet übrigens nicht, dass man vollumfänglich mit dem eigenen Körper zufrieden sein muss, viele Menschen haben diesbezüglich ihre Baustellen und die stehen behinderten Menschen auch durchaus zu. Trotzdem, eine Behinderung zu haben ist kein Grund dafür, den eigenen Körper deswegen schlecht zu machen oder sich als unsexy oder hässlich wahrzunehmen.
Aber diese Akzeptanz entsteht nicht automatisch, erst recht nicht wenn das Selbstbewusstsein diesbezüglich schon mal einen Knick erlitten hat. Man muss sie fördern und stützen, aber wie? An dieser Stelle ist es unmöglich zu verallgemeinern, ich kann nur sagen, was mir andere behinderte Menschen erzählt haben und was mir selbst geholfen hat. Die Dinge die mir am häufigsten genannt wurden und die ich auch selbst bestätigen kann, sind Stilveränderungen und Fotos. Ich kenne auch Menschen, die sich zeichnen ließen und die damit Erfolg hatten. Also Dinge die dazu führen, dass ich mich selbst vor einem Spiegel oder auf Bildern sehe und sagen kann “Ich sehe gut aus.” oder “Ich erkenne mich.” oder auch einfach mal nur ein “Wow.”. Dann ist man vielleicht noch nicht am Ziel, aber man hat einen großen Schritt gemacht.
Um Vertrauen in sich selbst und den Körper zu gewinnen, muss man allerdings auch wissen worin die eigenen Grenzen liegen. Ich meine damit nicht unbedingt Grenzen wie eine Ablehnung bei einem Anschreiben auf einer Datingplattform oder bei einem Date, obwohl auch das wichtige Grenzen sind. Das gehört zum Punkt der Frustration. Ich rede jetzt explizit von den Fragen die sich bei der Umsetzung der eigenen Sexualität, beim Ausleben gewisser Neigungen, wie beispielsweise BDSM, oder in Partnerschaften zeigen. Welche Stellungen kann ich überhaupt umsetzen? Kann ich überhaupt gefesselt werden? Kann ich mich dabei nicht schwer verletzen? Wie gebe ich etwas an meine Partner*in zurück?
Auch für diese Fragen gibt es keine allgemeingültige Lösung, aber es gibt Lösungen. Dafür braucht man manchmal ein wenig Kreativität, außerdem Empathie und Achtsamkeit, und auch Humor ist ein wichtiger Bestandteil. Man sollte über kleine Pannen und eventuelle Fehlversuche auch lachen können. Mikrobewegungen, also kleinste aber gezielte Bewegungen, können etwas zurückgeben. Man kann eine Hand auch führen, wenn die Kraft des anderen Körpers dafür nicht mehr ausreicht. Stellungen müssen nicht aus dem Katalog kommen, die eigene Lösung ist meistens praktikabler.
Ich gebe jetzt mal ein Fallbeispiele für einen Lösungsansatz.
Beispiel 1: Ein Mensch mit Glasknochen hat eine masochistische Neigung. Dieser Mensch zweifelt aber daran, ob diese Neigung ausgelebt werden kann, denn in der eigenen Wahrnehmung ist die Befriedigung der Neigung ausschließlich mit Schlagen oder Peitschen verbunden wird. Nun, zumindest eine Annahme ist korrekt. Eine verantwortungsbewusste Person in der dominanten Rolle würde niemals auf die Idee kommen, die erwähnten Praktiken unter den gegebenen Umständen auszuführen. Allerdings heißt dies nicht, dass man die Neigung deswegen abhaken muss. Man bedient sich einfach anderer Mittel, wie dem Spiel mit Hitze und Kälte, Klammern, Nadeln, die Möglichkeiten sind vielfältig.
Zum Abschluss möchte ich nochmal ausdrücklich betonen, dass behinderte Menschen alle Geschlechter, Sexualitäten, Begehrensformen haben können und romantische Anziehung erleben, oder eben auch nicht, ebenso wie Menschen die abled sind.
Danke für ihre Aufmerksamkeit.