Gatekeeping: Warum wir manchmal lügen müssen

Grafik mit violettem Hintergrund. In großen weißen Großbuchstaben steht links der Text: „WARUM TRANS-MENSCHEN FÜR GESUNDHEITS-VERSORGUNG LÜGEN MÜSSEN“. Rechts daneben befindet sich ein medizinisches Kreuz in trans* Farben. Die Gestaltung wirkt klar, politisch und aufmerksamkeitsstark – mit Fokus auf die Hürden, denen trans Personen im Gesundheitssystem begegnen.

Gatekeeping richtet maximalen Schaden bei Betroffenen an. Trans* Menschen müssen manchmal lügen, um medizinische Versorgung zu bekommen. Das Problem liegt im System, nicht bei ihnen.

In einem idealen Gesundheitssystem wäre es selbstverständlich: Menschen äußern ihre Bedürfnisse, schildern ihre Geschichte, werden ernst genommen – und bekommen die passende Unterstützung. Ein System, das auf Vertrauen basiert, auf Respekt und auf der Anerkennung der Vielfalt menschlicher Erfahrungen. Doch für viele trans* Menschen sieht die Realität ganz anders aus. Besonders dann, wenn sie nicht nur trans sind, sondern auch behindert, neurodivergent oder psychisch erkrankt.

Wer in Deutschland oder anderswo Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen sucht – etwa Hormontherapie, Operationen oder Anerkennung – muss oft einem engen, normativen und binären Bild entsprechen: stabil, leistungsfähig, psychisch unauffällig, neurotypisch, möglichst jung, möglichst eindeutig in der binären Geschlechtsidentität. Wehe der Person, die davon abweicht. Die eigene Realität wird zur Prüfungssituation, zur Gratwanderung zwischen Wahrhaftigkeit und Taktik.

Das Gatekeeping beginnt bereits bei der Diagnose – in Deutschland früher über das sogenannte TSG-Verfahren oder im Rahmen psychiatrischer Gutachten. Hier wird nicht in erster Linie geprüft, ob jemand Hilfe braucht oder was eine Person für ein gutes Leben benötigt. Es wird geprüft, ob jemand in das Bild passt, das cisnormative Strukturen von „echter“ Transgeschlechtlichkeit haben. Und diese Erwartungen sind so eng gefasst, dass viele trans* Menschen früh lernen: Wer ehrlich ist, bekommt Probleme. 

Wer lügt, hat Chancen

Denn wer sagt, dass er oder sie autistisch ist, gilt schnell als nicht urteilsfähig. Wer psychische Erkrankungen angibt, wird als instabil und nicht therapiefähig eingeschätzt. Wer sagt, dass die eigene Geschlechtsidentität nicht binär ist, wird als „nicht reif für medizinische Maßnahmen“ abgestempelt. Wer sagt, dass man gleichzeitig behindert und trans* ist, wird zum medizinischen Risiko erklärt – ein Risiko, das viele Ärzt*innen nicht bereit sind einzugehen.

Und so entsteht ein System, in dem Ehrlichkeit bestraft und Täuschung belohnt wird. Nicht, weil trans* Menschen unehrlich sein wollen – sondern weil sie gelernt haben, dass die Wahrheit gegen sie verwendet wird. Und genau das ist keine Einzelfallerfahrung, sondern Ausdruck struktureller Gewalt. Gewalt, die subtil ist, aber tiefgreifend. Gewalt, die nicht durch direkte Ablehnung wirkt, sondern durch permanente Unsicherheit, durch das Gefühl, ständig etwas verbergen zu müssen, um Hilfe zu erhalten.

Gatekeeping ist kein Schutz

Gatekeeping verkauft sich gern als Schutzmechanismus, ist aber letztlich ein Ausschlussmechanismus.

Es behauptet, trans* Menschen vor sich selbst zu schützen – meint aber in Wahrheit: Nur wer „funktioniert“, darf Hilfe bekommen. Nur wer sich möglichst normkonform inszeniert, wird medizinisch ernst genommen. Und es trifft vor allem diejenigen besonders hart, die ohnehin mehrfach marginalisiert sind: Menschen mit Behinderung, mit psychischen Diagnosen, mit Autismus, mit ADHS, mit Armutserfahrungen, mit Rassismuserfahrungen. Wer an mehreren Stellen der Gesellschaft unsichtbar gemacht oder abgewertet wird, muss sich doppelt und dreifach anpassen, um überhaupt wahrgenommen zu werden.

Die Botschaft ist klar: Du darfst trans* sein – aber nur unter bestimmten Bedingungen.

Du darfst existieren – aber bitte angepasst, leise, stabil. Du darfst du selbst sein – aber nicht zu sehr.

Das ist nicht nur entwürdigend. Es ist gefährlich. Denn wenn Menschen gezwungen sind zu lügen, um überleben zu können – dann hat nicht die Person versagt, sondern das System. Wer behauptet, Gatekeeping schütze „die Falschen“ davor, sich zu schaden, verkennt die Realität: Die eigentliche Gefahr entsteht nicht durch zu viel Zugang – sondern durch zu wenig.

Wer monatelang auf ein Gutachten warten muss, wer auf Therapieplätze vertröstet wird, die nie frei werden, wer sich in Sprechstunden verstellen muss, weil die eigene Identität angeblich nicht „fest genug“ ist – der verliert nicht nur Zeit, sondern oft auch Gesundheit, Hoffnung und Selbstvertrauen. Die Folgen dieses Systems sind nicht theoretisch, sondern konkret: Depressionen, Isolation, Rückzug, ein Gefühl permanenter Entfremdung – nicht von sich selbst, sondern von einer Gesellschaft, die einem nicht zuhören will.

Queeres Leben ist vielfältig

Ein menschenwürdiges Gesundheitssystem muss die Vielfalt queerer Lebensrealitäten anerkennen.

Es darf nicht normieren, sondern muss begleiten. Es muss zuhören, nicht beurteilen. Es muss sich verabschieden von der Vorstellung, dass trans* Identität eine medizinische Ausnahme sei, die kontrolliert werden müsse. Es muss sich von der Idee lösen, dass psychische Erkrankungen, Behinderung oder Neurodivergenz automatisch Ausschlusskriterien sind – anstatt sie als Teil menschlicher Komplexität anzuerkennen.

Denn trans* zu sein ist keine Diagnose. Es ist eine Realität.

Eine Realität, die viele Formen annehmen kann. Eine Realität, die nicht weniger wahr ist, nur weil sie nicht in Schablonen passt. Eine Realität, die medizinisch begleitet werden darf – aber nicht durch Misstrauen, sondern durch Respekt.

Was es braucht, ist ein System, das Vertrauen ermöglicht. Das Risiken nicht pauschalisiert, sondern Menschen zutraut, selbst zu wissen, was sie brauchen. Ein System, das nicht sortiert in „würdig“ und „unwürdig“, sondern begleitet, stärkt, schützt.

Selbstbestimmung ist kein Risiko. Sie ist ein Menschenrecht.

Und jedes System, das das nicht anerkennt, ist kein medizinisches System – sondern ein politisches Machtinstrument.

Es ist Zeit, das zu ändern. Bis es sich geändert hat, sind Lügen legitim.

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